Die Bolivarische Republik Venezuela

 

"Ein solcher Reichtum! Die weltweit größten Erdölreserven, die fünftgrößten Erdgasreserven. (...) Wir sind eines der Länder mit den größten Süßwasserreserven der Welt, mit Millionen von Hektar fruchtbarer Erde, ein riesiges Territorium, ideal für den Tourismus, ein junges, fröhliches, zotiges, karibisches Volk und vieles mehr. Und unter dem Strich bleiben 80% Armut. Wie ist das zu erklären?"

Dieses Zitat von Hugo Chávez aus seiner Antrittsrede als Präsident vor dem Nationalkongress 1999 verdeutlicht die Ausgangslage und die Herausforderung der sich das Projekt der "bolivarischen Revolution" in Venezuela stellen sollte. In Folge der neoliberalen Wirtschaftsreformen der 80er und 90er Jahre, gekoppelt mit einer enormen Korruption der herrschenden Eliten und einer brutalen Repression gegenüber sozialen Protesten, die sich am deutlichsten in der militärischen Niederschlagung des "Caracazo" 1989 zeigte, war das Land gegen Ende der neunziger Jahre politisch und wirtschaftlich am Ende einer Sackgasse angekommen: Die Armutsquote war von etwa 35% Anfang der 80er auf über 70% gestiegen,[1] die Besitz- und Einkommensverteilung deutlich ungleicher als noch zwei Jahrzehnte zuvor und die Inflation erreichte Werte von annähernd 200%.[2] Auch der Zugang zu einer ausreichenden Gesundheitsversorgung und einer guten Bildung war nur noch den wenigen Wohlhabenden vorbehalten und das Vertrauen in die Führung des Landes und das gesamte politische System der repräsentativen Demokratie fiel in den 90ern rapide ab.

Dies war die Ausgangslage, in der Hugo Chávez mit dem Wahlversprechen eines vollkommenen Bruchs mit dem bestehenden politischen und wirtschaftlichen System und mit einen politischen Programm, das an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung orientiert war, zum Präsidenten gewählt wurde.

Dieses Versprechen hat seine Politik eindeutig gehalten, angefangen mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, in der sich bereits eine klare Abkehr vom Neoliberalismus abzeichnete, über eine neue Sozialpolitik vor allem in Form der verschiedenen "Misiones" bis hin zu einer neuen Ausrichtung der Außenpolitik. Der Machtwechsel und der neue politische Kurs der "bolivarischen Revolution" stieß bei den alten Eliten auf eine extreme Ablehnung und war vor allem in den ersten Jahren hart umkämpft. Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen waren ein beinahe geglückter Putsch im April 2002, der nur durch die massive Mobilisierung der Bevölkerung verhindert werden konnte, sowie ein von den alten Eliten organisierter Streik in der Erdölindustrie 2002/03, der die venezolanische Wirtschaft erneut an den Rand des Kollapses brachte.

Zehn Jahre nach dem Amtsantritt von Hugo Chávez lässt sich trotz solcher Probleme in der Durchsetzung des "bolivarischen Projekts" eine deutlich positive Bilanz ziehen:

Die Armutsrate ist von ihrem Höchsttand Ende der 90er Jahre auf inzwischen unter 30% gesunken. Noch deutlicher ist der Rückgang der extremen Armut, die von fast 30% im Jahr 1997 auf inzwischen unter 10% gefallen ist.[3] Diese Zahlen stellen allein schon einen enormen Erfolg dar, ausgeblendet ist hier aber immer noch der neu geschaffene Zugang zu einer kostenfreien Gesundheitsversorgung und einem umfassenden Bildungssystem - von Alphabetisierungskursen bis zu einer bolivarischen Universität - was die Lebenssituation der verarmten und marginalisierten Bevölkerung extrem aufwertet.

Neu ist vor allem auch ein neues Selbstwertgefühl der lange Zeit ausgegrenzten und ignorierten Bevölkerungsmehrheit. Die "bolivarische Revolution" wird hier nicht als von Chávez erdachtes und autoritär durchgesetztes Projekt betrachtet und wahrgenommen - wie es in der hiesigen Presse leider oft dargestellt wird - sondern als gemeinsames, als eigenes Projekt, in dem jeder sich einbringen kann und soll. Diese neue Selbstwahrnehmung und Wertschätzung vieler ist neben den materiellen Verbesserungen einer der größten Gewinne, der in Zahlen gar nicht festzumachen ist.

Robert Gather, Politikwissenschaftler und Mitglied der Soli-Gruppe

[1] vgl. Weisbrot, Mark; Ray Rebecca; Sandoval, Luis (2009): The Chávez Administration at 10 Years: The Economy and Social Indicators; Center for Economic and Policy Research, Washington; sowie Lander, Edgardo (2005): Venezuelan Social Conflict in a Global Context; in: Latin American Perspectives, Issue 141

[2] vgl. Neuber, Harald (2007): Venezuela: Die vergessenen 194,3 Prozent; Telepolis 23.06.2007: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25525/1.html

[3] vgl. Weisbrot, Mark; Ray Rebecca; Sandoval, Luis (2009): The Chávez Administration at 10 Years: The Economy and Social Indicators; Center for Economic and Policy Research, Washington